Freitag, 25. September 2015

Toleranz ist keine Dekoration

Toleranz ist keine einfache Sache. Toleranz ist die wohl schwierigste Haltung überhaupt. Denn sie muss sich dort beweisen, wo es am schwierigsten ist, wo es uns am meisten weh tut. Sie muss sich an einer Meinung, an einer Lebenseinstellung oder Werthaltung beweisen, die der jeweils eigenen radikal widerspricht. Dort nämlich, wo es uns leicht fällt, wo es bloß um eine mehr oder weniger große Variation eigener Einstellungen geht, dort ist Toleranz sehr oft bloße Attitüde, bildungsbürgerliche Folklore oder seelische Dekoration.

Dort aber, wo wir auf unser Gegenteil stoßen, wo wir auf das aus unserer Sicht Barbarische treffen, dort werden die tiefliegenden Nervenbahnen unserer Toleranz offengelegt. Wir werden harsch aus Selbstverständlichkeiten gerissen, und wir bemerken, dass unser Verständnis von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten nicht überall geteilt wird. Wir bemerken, dass unser globaler Anspruch, in all diesen Fragen im Recht zu sein, nicht überall Wirklichkeit ist. Wir bemerken, dass die Decke der Zivilisation nicht nur dünn ist, sondern auch zu kurz für die ganze Welt.

Wie muss unsere Toleranz mit Intoleranz umgehen? Gibt es Null-Toleranz gegenüber Intoleranz? Wie geht die Demokratie mit ihren Feinden um? Lässt sie sie gewähren? Oder setzt sie sich zur Wehr und schützt sich – nötigenfalls auch mit Gewalt, mit Intoleranz, mit autoritären Maßnahmen?

Keine Frage, wenn fundamentale Werte wie Freiheits- und Menschenrechte bedroht werden, dann muss man dem entschieden und energisch entgegentreten. Sobald man das aber tut, tritt man in eine Beziehung mit dem Barbarischen ein. Das radikal Andere gewinnt Einfluss, ob man will oder nicht. Um uns vor den Angriffen der Unfreiheit zu schützen, schränken wir unsere Freiheiten ein. Um unsere Menschrechte zu bewahren, weichen wir sie zum Teil auf. Man denke nur an Überwachungsmaßnahmen, die uns vor Terror schützen sollen. Sollte man das etwa nicht tun? Doch, sollte man.

Aber Abgrenzung allein hilft uns nicht. Bloße Abwehr schützt keinen Wert. Wir müssen einen Schritt auf das Andere, auch auf das Barbarische, zugehen, und wir müssen es verstehen wollen. Dieses Verstehen-Wollen - auch wenn es unmöglich scheint - ist eine der tiefsten Wurzeln von Toleranz. Verstehen wollen bedeutet nicht akzeptieren. Doch dieses Verstehen-Wollen gibt unserer Ablehnung Substanz. Dieses Verstehen-Wollen bewahrt uns davor, Toleranz und Ignoranz zu verwechseln. Und vielleicht bringt uns das auch einen Schritt weiter.
Ich erinnere mich dieser Tage an die Anschläge in Kopenhagen, im Februar dieses Jahres. Wie viele andere Radiostationen berichtete auch die BBC ausführlich und vielfältig darüber. In einem der Beiträge war ein kurzes Interview mit einer älteren Dänin zu hören. Sie legte Blumen am Tatort nieder. Doch sie tat es nicht dort, wo die Opfer starben, sondern dort, wo der Attentäter getötet wurde. Warum sie das tue, fragte der Reporter in bekannt trockenem BBC-Stil. Weil an allen anderen Plätzen schon so viele Blumen liegen würden, sagte sie. Freilich sei es falsch, was er getan habe. Er sei eine verirrte Seele gewesen, die in dieser Gesellschaft keine Chance hatte. Und sie hoffe, dass ihm sein Gott verzeihe. Sie hätte, so meinte sie, Mitleid mit seiner Familie und seinem kurzen Leben. Und welchen Einfluss würde diese Tat auf die dänische Gesellschaft haben? - wollte der Reporter wissen. Die Dame weinte leise hörbar und sagte: »Wir müssen toleranter werden - und liebevoller.«

Ja, diese Begebenheit ist eine Ausnahme. Sie beweist auch nichts. Aber sie zeigt, was dem Menschen möglich ist.

Dazu könnte man vieles sagen, erklären. Vielleicht sollte man das auch. Man kann sich aber auch nur an einen Gedanken erinnern, den Ingeborg Bachmann in einer Rede formuliert hat, 1959, vor Kriegsblinden in Köln: »Wer, wenn nicht diejenigen unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, könnte besser bezeugen, dass unsere Kraft weiter reicht als unser Unglück, dass man, um vieles beraubt, sich zu erheben weiß, dass man enttäuscht, und das heißt, ohne Täuschung, zu leben vermag. Ich glaube, dass dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist - der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.«

Sonntag, 20. September 2015

Muss Wien geopfert werden?

»Wählt blau, Genossen, und rettet das Land!« Zugegeben, das sind Nachtgedanken - düstere, bittere. Vielleicht ist es auch ein Albtraum, denn bekanntlich gebiert der Schlaf der Vernunft Ungeheuer. Aber bemühen wir dennoch unsere Vorstellungskraft.

Stellen wir uns also vor, die Wiener SPÖ verliert die kommende Wahl. Stellen wir uns außerdem vor, Herr Strache wird mit sattem Vorsprung Wiener Bürgermeister und die FPÖ regiert Wien. Sie dominiert den Gemeinderat, bildet den Stadtsenat uns sitzt an allen Schaltstellen der Macht. Stellen wir uns das alles einmal vor. Und stellen wir uns weiter vor, all das geschieht mit Absicht. Nicht so sehr von Seiten der FPÖ, sondern von Seiten ihrer Gegner, allen voran von Seiten der SPÖ.

Was wird geschehen? Die Jahre ziehen ins Land: 2016, 2017 ... Die Routineabläufe der Stadt werden weiterhin funktionieren, jedenfalls dort, wo es der rote Verwaltungsapparat zulässt. Da und dort wird es vielleicht Pannen geben, die für die Menschen ärgerlich sind und obendrein die Zweifel nähren, ob die Stadt nun tatsächlich gut verwaltet ist.

Das internationale Ansehen der Stadt geht zurück. Künstler und Kulturschaffende beginnen, einen Bogen um die Stadt zu machen. Internationale Wissenschaftler bleiben aus, und es wird schwieriger, sich an renommierten Projekten zu beteiligen. Die Wirtschaftsdaten zeigen nach unten. Große Unternehmenszentralen überlegen, Wien zu verlassen, da es zunehmend mühsamer wird, ausländische Arbeitskräfte in die Stadt zu holen. Es gibt bessere Plätze in Europa, um Karriere zu machen, Kontakte zu knüpfen und ein vielfältiges Leben zu führen.

Die Arbeitsmarktsituation wird immer angespannter. Ob die Kriminalitätsrate in Wien gleich geblieben oder gestiegen ist, darüber gibt es Streit mit dem Innenministerium. Die Flüchtlingsfrage ist nach wie vor ungelöst und durch die restriktive Haltung Wiens in den restlichen Bundesländern eskaliert. Der zunehmenden Obdachlosigkeit begegnet man mit systematischen Polizeieinsätzen und aufgrund der reduzierten Betreuungseinrichtungen steigt die Drogenkriminalität. Die U-Bahn fährt aber wie gewohnt. Die Müllabfuhr auch.

Wien ist zu einer großen Bühne geworden. Die ganze Stadt sieht den neuen Rathaus-Herren zu. Alle anderen Bundesländer auch, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Ein bekanntes, aber neu bearbeitetes Stück wird aufgeführt: Das FPÖ-Personal verschafft sich gegenseitig Ämter, hievt sich in Machtpositionen und verteilt großzügig lukrative Positionen an die eigenen Leut´. Da sie ihr kultiviertes Facebook-Verhalten in den Politik-Alltag mitgenommen haben, wird der Umgang untereinander immer rauer und aggressiver, je näher sie den großen, aber eben doch beschränkten Futtertrögen der Stadtverwaltung kommen. Immer öfter geschieht es, dass ein Blauer mit blauen Augen den blauen Ring im Rathaus verlassen muss. Stadträte werden über Nacht hinausgeworfen, andere ernannt und dann bald wieder abgesetzt. In den Unternehmen der Stadt zeigt sich eine ähnliche Dynamik.

Es wird Sommer. Wir schreiben das Jahr 2018. Die Lügen der FPÖ sind als solche entlarvt, die Inkompetenz enttarnt, die Ahnungslosigkeit und Skrupellosigkeit unter Beweis gestellt. Das Publikum wendet sich ab, rauft sich die Haare oder verfolgt in Schockstarre das Bühnengeschehen. Die Umfragewerte der FPÖ haben sich mittlerweile bei 10 - 12% eingependelt. Das sind keine günstigen Voraussetzung für den beginnenden Nationalrats-Wahlkampf. Wer wird überhaupt Spitzenkandidat der FPÖ sein? Der Wiener Bürgermeister, der alle Hände voll zu tun hat seine Bande zu bändigen? Auf Bundesebene wird die blaue Truppe nun höchtens unter »ferner liefen« ins Ziel kommen. Österreich kann aufatmen. Wien hat das Land gerettet.

All das eine schreckliche Vorstellung? Aber was ist die Alternative? Die FPÖ landet bei der kommenden Wien-Wahl knapp hinter der SPÖ auf Platz 2 und hetzt drei Jahre lang eine »Rot & Co Koalition« vor sich her, ehe sie 2018 den Bundeskanzler stellt. Ist ein Opfer auf Zeit da nicht die bessere Wahl? Denn zwei Jahre später ist es ja auch für Wien so weit. Wien darf wieder wählen. Und Michi Häupls Nachfolger kann dann seinen Wienern zurufen: »So an Bledsinn mochts ma oba nimma!«

Donnerstag, 17. September 2015

Das Fremde und der Wohlstand

Das Fremde macht uns Angst. Das Fremde zieht uns aber auch an. Es fasziniert. Aber was bedeutet überhaupt fremd? Und wie viel Fremdes steckt in uns?

Menschen aus fernen Ländern und anderen Kulturen sind augenscheinlich fremd. Sie kleiden sich anders, verhalten sich anders. Sie beten, essen und lachen anders. Sie fallen auf.

Aber nicht nur sie sind fremd. Auch wir, die wir uns gut kennen, wir, die wir in derselben Stadt, im selben Dorf oder im selben Tal geboren sind, wir Altbekannten also sind uns oft äußerst fremd. Wir haben unterschiedliche Meinungen, konträre Ideen und Lebensentwürfe, verstörenden Gewohnheiten. Wir sind - könnte man sagen - sehr oft einander nicht grün.

Auch die Wege unsere Geschichte sind dicht gepflastert mit Fremdheiten aller Art. Das Christentum, das angeblich unsere Identität ausmacht, war vor knapp 2000 Jahren ein kulturfremder Import aus dem Nahen Osten und hierzulande ebenso fremd, wie es noch vor gut 100 Jahren die Demokratie war. Die Kartoffel rettete vielen unserer Vorfahren nach dem Dreißigjährigen Krieg das Leben und war als vollkommen fremde Pflanze nicht lange davor nach Europa gekommen. Gar nicht zu reden von der Eisenbahn. Die war uns nicht nur fremd, sie galt uns sogar als Teufelswerk. So warnte das bayrische Obermedizinalkollegium ganz eindringlich davor, da nicht nur das Besteigen, sondern schon der bloße Anblick einer Lokomotive eine Gehirnkrankheit auslösen könne. Wir sollten uns heute über die hirnliche Gesundheit dieses Kollegiums kein Urteil anmaßen, aber eines sollten wir uns klarmachen: Unsere Identität, unsere Kultur ist das Produkt von Fremdheiten.

Was Menschen betrifft, fordert man gerne und oft auch laut Integration. Fremde, so hört man zuweilen ohrenbetäubend, müssten sich an die Leitkultur, an die Mehrheitsgesellschaft anpassen. Doch Anpassung ist keine Integration. Anpassung ist Assimilation. Integration geht auf das lateinische Wort »integrare« zurück, das soviel bedeutet wie: wiederherstellen, erneuern, geistig auffrischen. Integration bedeutet also nicht, dass sich das Fremde an das Gewohnte anpasst. Integration bedeutet, dass das Fremde das Gewohnte verändert und umgekehrt. Integration bedeutet, dass etwas Neues entsteht. Integration bedeutet Innovation, Fortschritt und Wohlstand.

Hätte sich der Erfinder des Rades - so es ihn jemals gab - an die Mehrheitsgesellschaft bloß angepasst, würden wir noch immer am Boden sitzen und maximal zu Fuß gehen. Hätten sich Galileo und andere Astronomen an den Denkgepflogenheiten der Zeit orientiert, würden wir die Welt noch immer für eine Scheibe halten und bei jeder simplen Kreuzfahrt am Rand der Welt samt Schiff in die Hölle hinunterfallen. Wären Alexander Fleming und nachfolgende Wissenschaftler bloß den bekannten Wegen gefolgt, dann wäre das Penicillin unentdeckt und die lebensrettende Wirkung von Antibiotika unbekannt geblieben. Des Fremde führt zu Innovation und rettet Leben. Das Aussperren des Fremden hingegen führt nicht nur zu einer geistigen Verarmung, sondern auch zu einer wirtschaftlichen Verelendung der Gesellschaft.

Dieser Tage kommen viele Fremde zu uns. Wir wissen nicht, wer bleiben wird. Wir wissen nicht, wie viele es sein werden. Und wir wissen auch nicht, was das im Einzelnen bewirken wird. Dass es nicht leicht für uns wird, wissen wir aber. Und bei einem aufmerksamen Blick in unsere Geschichte wissen wir außerdem: Wenn uns Integration gelingt, dann wird unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und Kultur eine bessere als heute sein.

Donnerstag, 10. September 2015

Islamisches Abendland?

Das moderne Europa - oder sollte man blumiger Weise Abendland sagen? - dieses Europa - oder eben Abendland - ist weder christlich noch islamisch. Europa, so wie wir es heute kennen, hat sich gegen beide Religionen durchgesetzt, und wurde nicht von ihnen hervorgebracht. Europa ist ein qualvoll entbundenes Kind der Aufklärung und keine Gottesempfängnis.

Und doch ist Europa in beiden Religionen stark verwurzelt. Ein Widerspruch? Keineswegs. Denn das, wogegen man sich wehren muss, trägt man weiterhin tief in sich. Europas Geschichte und Kultur ist vom Christentum ebenso geprägt wie vom Islam. Das heute als Kampfbegriff in die Diskussion geworfene "christliche Abendland", das es angeblich zu verteidigen gilt, zeugt eher von atemberaubender Ahnungslosigkeit als von echter Kenntnis der Geschichte.

Hat man etwa vergessen, dass der Islam  beinahe ein Jahrtausend auf der Iberischen Halbinsel die politisch, religiös und kulturell bestimmende Macht war? Oder haben manche der heutigen Rädelsführer das gar nie gewusst? Die glanzvolle Hauptstadt dieses Reiches, Córdoba, war die weitaus größte Stadt Europas. Sie war wohlhabender als Konstantinopel und die Bibliothek ihrer Residenz umfasste mehr Bücher, als es im ganzen übrigen Europa zusammen gab. Die großartige Kathedrale der Stadt wurde im 8. Jahrhundert als Moschee auf den Fundamenten eines antiken römischen Tempels errichtet. Heute ist sie ein christliches Gotteshaus. So ist Europa.

Dürfen wir das antike Griechenland als die Wiege Europas bezeichnen? Ja, dürfen wir. Zumindest zum Teil. Doch bemerkenswerterweise hat sich das mittelalterliche Europa für seine Wiege überhaupt nicht interessiert. Die griechischen Schriften zu Philosophie und Mathematik, zu Wissenschaft und Staatslehre waren in Europa gar nicht verfügbar. Ganz anders im byzantinischen und islamischen Kulturkreis. Dort wurden die griechischen Schriften übersetzt und mit größter Intensität studiert. Und so kam es, dass die Bücher der griechischen Antike über den arabischen Raum nach Europa kamen. Die islamische Kultur hat - wenn man so will - Europa erst in seine eigene Wiege gelegt. Kein Abendland ohne den Islam.

Hinzu kam die hohe Wertschätzung der muslimischen Welt für das wissenschaftliche Experiment. Das hatte zur Folge, dass praktisch alle bahnbrechenden Erkenntnisse in der Medizin und Physik, in der Mathematik, Astronomie und Geografie von islamischen Gelehrten ausgingen. So griff beispielsweise die sogenannte christliche Seefahrt auf Karten zurück, die der muslimische Geograf al-Idrisi im 12. Jahrhundert angefertigt hatte. Auch Christoph Columbus hatte mehr als 300 Jahre später einen Atlas von ihm an Bord.

Es ist keine Frage: Trotz hoher kultureller Entwicklung zog der Islam eine blutige Spur durch Europa. Das Gleiche gilt für das Christentum. Europa setzte sich zur Wehr und tut es noch heute, und wir sollten weder ein christliches noch ein islamisches Abendland verteidigen wollen. Wenn überhaupt, dann sollten wir ein Europa verteidigen, das sich gegen den politischen Einfluss der Kirchen gewehrt und für Bürger-, Freiheits- und Menschenrechte gekämpft hat.

Übrigens: Was haben Wörter wie Alkohol, Havarie oder Karaffe, Magazin, Sofa und Zucker gemeinsam? Sie sind arabischen Ursprungs. Und dass wir einen Ausdruck wie "jemanden vor den Kadi zerren" für eine umgangssprachliche Redensart halten, zeigt wie tief die islamische Kultur im abendländischen Erbgut verwurzelt ist. Denn der Kadi ist gemäß islamischer Staatslehre ein Richter. Und bei uns ist er das offenbar auch.

Freitag, 4. September 2015

Die Flüchtlinge und der Ederer-Tausender

Die Solidarität ist groß in Europa, keine Frage. Menschen melden sich zu Wort, sie organisieren sich, sie spenden und helfen. Das ist beeindruckend und macht Hoffnung. Aber der nationale Egoismus ist ebenso groß, im offiziellen Europa derzeit wohl größer und stärker als die Solidarität. Die nationalistischen Regierungen berufen sich dabei auf ihr Volk, auf dessen Ängste und Sorgen ums eigene Wohlergehen.

Warum aber – fragt man sich – traten diese Länder jemals der EU bei? Etwa nur deshalb, um die Vorteile einer Gemeinschaft zu nutzen, ohne einen Beitrag dafür leisten zu wollen? Aber konnte man jemals davon ausgehen, dass das funktioniert? Kann irgendjemand glauben, die Regale im Supermarkt regelmäßig leerräumen zu können, ohne auch nur ein einziges Mal an der Kassa zu zahlen? Kann man davon ausgehen, dass das Vereinslokal des Clubs, in dem man Mitglied geworden ist, auch in Zukunft so praktisch und komfortabel sein wird, ohne dass man jemals selbst Hand anlegt und beim Ausmalen mithilft? Kann und konnte man jemals davon ausgehen? Ich frage hier gar nicht nach Herzensgüte, ich frage schlichtweg nach Intelligenz.

Denken wir an Österreich. Denken wir gut 20 Jahre zurück. Denken wir daran, wie vor der Volksabstimmung versucht wurde, die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit eines EU-Beitritts zu überzeugen. Allerlei Vorteile wurden landauf, landab plakatiert: Keine Reisepässe würde man mehr brauchen, mehr Waren würden ins Land kommen, und diese würden obendrein billiger werden und, und, und. Zum Sinnbild für all diese Vorteile wurde der „Ederer-Tausender“, den es in der einen oder anderen plakativen Form wohl in allen EU-Ländern vor dem Beitritt gegeben hat: Zumindest 1.000 Schilling – so die damalige österreichische Staatssekretärin – würde sich jede Familie pro Monat sparen können. Eine schöne Gehaltserhöhung wurde da in Aussicht gestellt. Ich frage nicht, was aus dem Versprechen geworden ist. Ich frage bloß, welche Haltung daraus entstanden ist. Halten wir uns politisch bloß an das, was uns einen Vorteil verspricht?

Man kann nur ernten, was man sät. Wenn man den Geist der Vorteilsnahme sät, wird man keine Solidarität ernten. Wenn man Menschen Sand in die Augen streut, darf man sich keinen klaren Blick erwarten. Wenn Opportunismus und Eigennutz die prägenden Merkmale der Politik sind, dann werden Courage, Offenheit und Solidarität nicht die prägenden Merkmale der Gesellschaft sein. Dass es keinen Nutzen ohne Kosten, keine Rechte ohne Pflichten und keine Freiheit ohne die Freiheit anderer gibt, dämmerte den Ländern der EU erst spät. Es ist zu hoffen, dass es keine Abenddämmerung ist, sondern ein Schritt im Erwachsenwerden.

Dienstag, 1. September 2015

Was werden sie denken?

Irgendwann wird es wieder Frieden geben im Nahen Osten, - in Syrien, im Irak. Irgendwann wird man wieder einigermaßen sicher leben können in den umkämpften und zerstörten Regionen Afrikas. Irgendwann. Das dürfen wir hoffen. Und irgendwann werden viele, die flüchten mussten, zurückkehren in ihre Heimat. Sie werden ihre Städte wieder aufbauen und neue Unternehmen gründen. Sie werden ihre Kaffeehäuser renovieren, Museen und Theater wieder aufsperren, und sie werden die Mitglieder ihres alten Sportvereins zusammenrufen. Sie werden Tanzen gehen am Wochenende oder ins Kino. Aber was werden sie denken?

Was werden sie denken über uns Österreicher und Deutsche? Über uns Ungarn und Franzosen, über uns Engländer, Griechen und Polen … über uns Europäer? Was wird in ihren Schulbüchern stehen, oder in ihren Liedern? Was wird in ihren Filmen zu sehen, auf ihren Bühnen zu hören sein? Wie werden sie uns in Erinnerung haben, uns Spanier und Portugiesen, uns Slowaken und Finnen, uns Italiener und Tschechen … uns Europäer?

Was werden wir denken, wir Slowenen und Letten, wir Belgier und Rumänen, wir Bulgaren und Schweden, wir Esten, Iren und Malteser, wir Kroaten, Zyprioten und Litauer … wir Europäer? Was werden wir denken? Und was werden wir sehen, wenn wir einander in die Gesichter schauen?

Dienstag, 25. August 2015

Soll das Volk zurücktreten?

Wenn über Jahre Gewitterwolken am politischen Horizont aufziehen, die aber gerade noch weit genug weg sind, um nicht in eine Höhle flüchten zu müssen, - bei einem solchen Wetter also werden die Worte mitunter scharf, die Gedanken aber trübe und das Herz schwer. Wenn schon nicht die Politiker zurücktreten, denke ich mir, dann sollten doch wenigstens wir, das Volk, zurücktreten. Unsinn? Natürlich. Grober Unfug. Der Rücktritt des Bürgers ist nur möglich durch vollkommene Ignoranz oder Tod. Und nur letzteres gelingt allen. Aber bis dahin ist noch Zeit. Und diese will verbracht sein: freudvoll, sinnvoll, aufrecht. Und vielleicht hinter einem Blog, inmitten herumtanzender Tweets. Oder mit grimmigem Blick auf ein zu befüllendes Kommentarfeld. Oder auch nur mit zittrigem Finger, der einen Like-Button erreichen will.

Ich habe noch nie so viele Rücktrittsaufforderungen in meiner Timeline gelesen wie in den letzten Wochen. Auch ich selbst habe eine geschrieben. Zurückgetreten ist freilich niemand. Und es wird auch niemand tun. Nicht einmal wir, das Volk, werden zurücktreten. Was wird passieren? Was sollte passieren? Wir, das Volk, können nicht zurücktreten. Aber wir können und müssen antreten - als Politiker.

Komfortabel und lustvoll ist es ja schon: Bei Kaffee oder einem Glas Wein lasse ich meine Finger über die Tastatur gleiten und verteile im Netz mehr oder weniger gleichmäßig spitze, giftige und unglaublich gescheite Kommentare zur Politik in diesem Land – Rücktrittsaufforderungen inklusive. Sollte ich oder sollte man damit aufhören? Keinesfalls. Politik braucht Aufmerksamkeit, Anteilnahme und Kritik. Und Politiker müssen das aushalten und auch wollen.

Nur eines – und das wird mir gerade in den Tagen der Flüchtlingsdiskussion schmerzlich bewusst – eines darf nicht sein: dass ich es dabei bewenden lasse, dass ich im Wohlgefühl, doch eh das Richtige irgendwo gesagt zu haben, am Sofa einschlafe. Ich muss mehr tun. Und damit meine ich gar nicht ein Engagement in der Sache selbst: Toilettenartikel oder Geld zu spenden, mich als Deutschlehrer zur Verfügung zu stellen oder einen Flüchtling zu Hause aufzunehmen. All das ist wichtig, richtig und bis zu einem gewissen Grad auch menschliche Pflicht.

Aber ich meine etwas Anderes. Ich rede von einem Engagement im politischen System, in den Institutionen, in den Organisationen, in den Gremien und Ausschüssen. Soll das etwa heißen, dass ich jetzt mit einer Vorfeldorganisation Kontakt aufnehmen soll, um mich dann durch die Bezirks- und Landesinstanzen durchzubeißen, bevor ich Bundeskanzler oder gar Präsident werden und alles besser machen kann? Ja, das soll es heißen. Aber das geht sich doch nie aus! Und außerdem ist die Politik ein dermaßen schmutziges, opportunistisches und den Charakter korrumpierendes Geschäft, dass ich dafür doch nicht mein Leben aufs Spiel setze. Das überlasse ich lieber den Selbstdarstellern dieser Republik. Ach ja?

Freilich, die wenigsten erreichen ein Nationalratsmandat. Fast niemand wird Minister, Bundeskanzler oder Präsident. Aber irgendwo in den Kaskaden, Nischen und Hinterzimmern des republikanischen Apparates muss ich meinen Mund aufmachen und Verantwortung übernehmen, wenn ich mich und meine politische Haltung ernst nehmen möchte. Was wird geschehen? Was werde ich tun? Jedenfalls bleibt es, bis das entscheiden ist, ein wunder und immer wieder schmerzender Punkt in meiner bloß politisch-rhetorischen Tatkraft, die mir – bei aller berechtigen Kritik – Respekt für jene Menschen abringt, die politisch tatsächlich etwas tun.

Donnerstag, 6. August 2015

Helfen ohne Herz.

Das ist ein Denkversuch, kein Plädoyer. Es geht, wie so oft in diesen Tagen, um die Flüchtlingsfrage. Kann da in der veröffentlichten und geposteten Meinung bloß die Herzensgüte gegen den blindwütigen Hass antreten? Einer der Dreh- und Angelpunkte dieser rechtspopulistisch verwahrlosten Diskussion ist beispielsweise das Wort »Gutmensch«, ein durch und durch widerwärtiger und denunzierender Begriff. Ich denke aber, dass man diesem Thema jede Emotion entziehen kann und noch immer zum Ergebnis kommen würde, dass es sinnvoll und notwendig ist, Flüchtlinge aufzunehmen, und zwar im eigenen Interesse. Man braucht dazu keine Empathie und Herzensgüte. Es genügt, einigermaßen bei Verstand zu sein - die Realität zu kennen und folgerichtig denken zu können.

Stellen wir uns vor, wir würden die Grenzen dichtmachen, Mauern errichten und alle Flüchtlinge so gut es geht von Österreich fernhalten. Gut, die Menschen ziehen weiter. Vorerst. Sie klopfen an die Tore anderer Länder. Doch diese haben die Türen auch geschlossen, sie haben Mauern gebaut und versuchen jeden Flüchtling so gut es geht fernzuhalten. An dieser Stelle ist anzumerken: nur grandios realitätsferne Menschen würden glauben, dass die Flüchtlinge nun nach Hause zurückkehren. Auf Geister dieser Art würde eine Bemerkung von Alexander von Humboldt gut passen, der meinte: »Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.«

Die wenigsten würden heimkehren. In ihrer Not würden sie lernen, die aufgebauten Mauern zu überwinden. Gut, bauen wir höhere Mauern. Menschen in Not lernen rasch. Bald überwinden sie auch diese. Wir bauen weiter, immer höher und höher. Und irgendwann werden wir so viel Geld für Mauern ausgegeben haben, dass das Land dahinter vollkommen verwahrlost und verarmt ist. Es will gar niemand mehr kommen. Die Mauern sind unnütz. Aber wir, wir würden jetzt gerne fluchtartig unser Land verlassen. Wird uns jemand aufnehmen?


Wie gesagt: ein Denkversuch, kein Plädoyer. Wir können - wenn wir nur diszipliniert genug sind - ohne Emotion diskutieren. Aber wir können nicht ohne Empathie und Herzensgüte leben. Neben Klarheit im Denken sind Empathie und Herzensgüte die tiefsten Wurzeln eines gelingenden Lebens. Das Herz hilft uns, wenn wir den Verstand verlieren. Am besten nutzen wir beides.