Zepter und Bettelstab
Über Gesetze und ihren menschlichen Raum
(Graz 1997)
Dass unser gemeinschaftliches Leben durch Gesetze geregelt werden muss, ist unbestritten. Doch der praktische Wert von Gesetzen besteht nicht darin, den Interessen bestimmter Gruppen dienlich zu sein, sondern allein darin, die äußere Freiheit jedes einzelnen zu gewährleisten. »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, A 33). Die Mittel des Rechts sind freilich Beschränkung und Zwang, doch sein alleiniger Zweck ist Freiheit, wodurch zugleich das allgemeine Kriterium für ein menschenwürdiges Gesetz genannt ist. Ein Verbot ist aus menschenwürdiger Gesinnung nur dann zu rechtfertigen, wenn das Verbotene dem Freiheitsrecht eines anderen widersprechen würde. Tut es dies nicht, so geht aus dem allgemeinen Gesetz der Freiheit hervor, dass das Verbot seinerseits zu verbieten ist. Man bedenke: Es ist hier von Freiheiten, und nicht von Empfindlichkeiten die Rede. Eine bettelnde Hand - gleich wie sie aussieht - wird niemals die Freiheit einer Person verletzten, sie wird höchstens an deren Empfindlichkeiten rühren. Gesetze, die bloß auf Vorlieben und Empfindlichkeiten von einzelnen Personen oder Gruppen Rücksicht nehmen, widersprechen dem Geist des Freiheitsrechtes, sie sind absolut willkürlich und - ganz gleich wie und ob sie exekutiert werden - der Struktur nach inhuman. Es würde überdies keine prinzipielle Grenze des Verbietens geben, allein die zufällige Machtverteilung in den Entscheidungsgremien würde darüber befinden, was zu verbieten ist. Wäre beispielsweise im Gemeinderat die Gruppe derjenigen stark genug, die den Anblick krankhaft-trauriger Gesichter nicht ertragen könnten, dann müssten die Melancholiker zu Hause bleiben, oder die Brillenträger, oder die Unrasierten, die Stinkenden, oder die Dicken, die Kahlköpfigen, oder die Kinder, die Frauen, die Alten, oder die Parfümierten, oder die Obdachlosen ..., eben je nach Empfindlichkeitskonzentration im Gemeinderat oder sonstwo.
Menschliches Leben will sich in all seinen Möglichkeiten entfalten: Es will sich erhalten, es will genießen und freudvoll sein, es will geistig und moralisch sich bilden, sich verwirklichen ... und es will sich hierin wohltun. Es ist der große Anspruch vernunftbegabter Menschlichkeit, auch jeden anderen - so gut es geht - in dieser Entfaltung zu fördern. Und so ist es überdies eine der hervorragendsten Aufgaben des Rechts, jene menschliche Entfaltung nicht nur zu unterstützen, sondern auch zu stimulieren.
»Wären die Menschen pünktlich gerecht, so möchte es keine Armen geben, in Ansehung derer wir dieses Verdienst der Wohltätigkeit zu beweisen glauben und Almosen geben« (Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, Fischer 1990, S. 251). Von zwei Tugenden ist hier die Rede, von Großherzigkeit und Gerechtigkeit. Es ist leicht zu sehen, daß ein Gesetz, welches das Betteln verbieten möchte weder die eine noch die andere fördert, im Gegenteil, es untergräbt sie beide, und es untergräbt ihren Zusammenhang. Indem eine Gemeinschaft, jene Armut, die nicht mehr anders kann, als sich in den Straßen zu zeigen, indem sie also jene in und an ihr Gestrandeten aus dem Straßenbild verbannt, verbannt sie zugleich auch ihre eigene Schuldigkeit, und beinahe unbemerkt geht in diesem Sog die Tugend der Großherzigkeit Stück für Stück verloren. Was bleibt ist eine Rechtshülse als Gesetz, die weder dem Gebenden noch dem Bedürftigen Raum für menschliche Lebendigkeit gibt. Ein Gesetz, das seine »Befugnis zu zwingen« nicht uneingeschränkt in den Dienst der Freiheit stellt, verliert mit der humanen Gesinnung zugleich seinen Grund.
Kant nannte das Recht einmal den Augapfel Gottes auf Erden, und wir müssen stets darauf achten, dass daraus nicht die Argusaugen von Lobbys werden.