Mittwoch, 6. November 2013

Zepter und Bettelstab

Ich habe Teile eines alten Textes von mir gefunden. Bereits vor rund 16 oder 17 Jahren wollte die Stadt Graz das Betteln per Gesetz oder Verordnung verbieten. Die Themen sind heutzutage nicht anders. Heute werden Obdachlose, die im Wiener Stadtpark nächtigen wollen, nicht nur vertrieben, sondern mit absurden Strafen bedroht. Leider finde ich nicht mehr den ganzen Text, sondern nur noch Bruchstücke. Und diese gingen damals so:




Zepter und Bettelstab

Über Gesetze und ihren menschlichen Raum
(Graz 1997)

Dass unser gemeinschaftliches Leben durch Gesetze geregelt werden muss, ist unbestritten. Doch der praktische Wert von Gesetzen besteht nicht darin, den Interessen bestimmter Gruppen dienlich zu sein, sondern allein darin, die äußere Freiheit jedes einzelnen zu gewährleisten. »Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann« (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, A 33). Die Mittel des Rechts sind freilich Beschränkung und Zwang, doch sein alleiniger Zweck ist Freiheit, wodurch zugleich das allgemeine Kriterium für ein menschenwürdiges Gesetz genannt ist. Ein Verbot ist aus menschenwürdiger Gesinnung nur dann zu rechtfertigen, wenn das Verbotene dem Freiheitsrecht eines anderen widersprechen würde. Tut es dies nicht, so geht aus dem allgemeinen Gesetz der Freiheit hervor, dass das Verbot seinerseits zu verbieten ist. Man bedenke: Es ist hier von Freiheiten, und nicht von Empfindlichkeiten die Rede. Eine bettelnde Hand - gleich wie sie aussieht - wird niemals die Freiheit einer Person verletzten, sie wird höchstens an deren Empfindlichkeiten rühren. Gesetze, die bloß auf Vorlieben und Empfindlichkeiten von einzelnen Personen oder Gruppen Rücksicht nehmen, widersprechen dem Geist des Freiheitsrechtes, sie sind absolut willkürlich und - ganz gleich wie und ob sie exekutiert werden - der Struktur nach inhuman. Es würde überdies keine prinzipielle Grenze des Verbietens geben, allein die zufällige Machtverteilung in den Entscheidungsgremien würde darüber befinden, was zu verbieten ist. Wäre beispielsweise im Gemeinderat die Gruppe derjenigen stark genug, die den Anblick krankhaft-trauriger Gesichter nicht ertragen könnten, dann müssten die Melancholiker zu Hause bleiben, oder die Brillenträger, oder die Unrasierten, die Stinkenden, oder die Dicken, die Kahlköpfigen, oder die Kinder, die Frauen, die Alten, oder die Parfümierten, oder die Obdachlosen ..., eben je nach Empfindlichkeitskonzentration im Gemeinderat oder sonstwo.
 
Menschliches Leben will sich in all seinen Möglichkeiten entfalten: Es will sich erhalten, es will genießen und freudvoll sein, es will geistig und moralisch sich bilden, sich verwirklichen ... und es will sich hierin wohltun. Es ist der große Anspruch vernunftbegabter Menschlichkeit, auch jeden anderen - so gut es geht - in dieser Entfaltung zu fördern. Und so ist es überdies eine der hervorragendsten Aufgaben des Rechts, jene menschliche Entfaltung nicht nur zu unterstützen, sondern auch zu stimulieren.
 
»Wären die Menschen pünktlich gerecht, so möchte es keine Armen geben, in Ansehung derer wir dieses Verdienst der Wohltätigkeit zu beweisen glauben und Almosen geben« (Immanuel Kant, Eine Vorlesung über Ethik, Fischer 1990, S. 251). Von zwei Tugenden ist hier die Rede, von Großherzigkeit und Gerechtigkeit. Es ist leicht zu sehen, daß ein Gesetz, welches das Betteln verbieten möchte weder die eine noch die andere fördert, im Gegenteil, es untergräbt sie beide, und es untergräbt ihren Zusammenhang. Indem eine Gemeinschaft, jene Armut, die nicht mehr anders kann, als sich in den Straßen zu zeigen, indem sie also jene in und an ihr Gestrandeten aus dem Straßenbild verbannt, verbannt sie zugleich auch ihre eigene Schuldigkeit, und beinahe unbemerkt geht in diesem Sog die Tugend der Großherzigkeit Stück für Stück verloren. Was bleibt ist eine Rechtshülse als Gesetz, die weder dem Gebenden noch dem Bedürftigen Raum für menschliche Lebendigkeit gibt. Ein Gesetz, das seine »Befugnis zu zwingen« nicht uneingeschränkt in den Dienst der Freiheit stellt, verliert mit der humanen Gesinnung zugleich seinen Grund.
 
Kant nannte das Recht einmal den Augapfel Gottes auf Erden, und wir müssen stets darauf achten, dass daraus nicht die Argusaugen von Lobbys werden.

Montag, 4. November 2013

Durch den Tag und über Land mit Ö1

Der frühe Morgen ist oft einsam und unbehaust. Dieser Tage auch kalt. Vertraute und kluge Stimmen aus dem Früh- oder Morgenjournal sind meine erste Verbindung nach draußen. Nach und nach werden die Damen und Herren Redakteure in mein Wohn- oder Badezimmer geschaltet. Sie berichten von der kleinen Welt in Österreich und der großen Welt drumherum. Sie erzählen von Konferenzen und Vorfällen, von Zusammenhängen, von Bühnen und Ausstellungsräumen, von Katastrophen und Ungeheuerlichkeiten, von Errungenschaften, Erstaunlichem, Berührendem. Sie lassen zu Wort kommen. Sie lassen Menschen zu Wort kommen. Auch solche, denen ich gar nicht zuhören will. Das ist gut so. Das bringt mich in Bewegung. An manchen Tagen endet der Moderator mit einem warmherzigen, vielleicht auch schalkhaften, aber deshalb nicht minder ernsten »carpe diem!« das Journal. Es ist Halbacht. Ich muss gehen. Den Carpe-Diem-Mann hab‘ ich in mein Herz geschlossen.

Freilich habe ich tagsüber kaum Zeit und Möglichkeit, mit Ohr, Herz und Verstand den vielen Radiostimmen zu folgen. Es bleibt Vieles ungehört, obwohl es gehört gehörte. Das ist mir schmerzlich bewusst. Ein kleiner Trost sind die Podcasts, die ich - sorgsam gehütet auf dem Smartphone (es hat wohl deshalb diesen Namen) - am Samstagmorgen beim Einkaufen höre oder während ich für das Frühstück sorge. Da kann es schon sein, dass ich zehn Minuten lang gedankenverloren vor dem Kühlregal ausharre und eine seltsame Figur abgebe während mir eine kundige Stimme von der Ingenieurskunst in der Teichwirtschaft des 14. bis 16. Jahrhunderts erzählt.

Aber manchmal kann ich mir tagsüber die Zeit nehmen, oder noch besser: es gibt eine Autofahrt. Dann höre ich beispielsweise einiges über »Märkte und Moral«, von Adam Smith und der schottischen Aufklärung, von der Leidenschaft zur Unterwasserfotografie, vom seltsamen und urtümlichen Tapir in Südamerika (wie sieht dieses Tier eigentlich aus? Ich muss das unbedingt googeln.) Dann erklärt mir jemand die neuesten Erkenntnisse der Cholesterin-Forschung (hellhörig spür‘ ich im Magen meinen Ernährungsgewohnheiten nach), oder ich erfahre, wie genau man es mit den Normbuchstaben in der österreichischen Schulschrift nimmt. Und das ist ein guter Anlass, über die Handschrift im Allgemeinen und die von Karl Kraus im Besonderen zu reden. Unfassbar. Dieses Radio, das fast immer bei mir ist und dessen Funkhaus in meiner Nachbarschaft steht, ist eine riesige und lebende Bibliothek von Hörbüchern. Jeden Tag kommt ein Neues und Überraschendes dazu.

Was habe ich selbst von diesem Tag erlebt? Ein paar Kilometer auf der regennassen A23 ans andere Ende von Wien. Das fahle Licht in Meeting-Räumen. Ein paar Mal einen Blick aus dem Fenster über die Donau hinweg. Und dann wieder nach Hause, quer durch Wien. Der Regen hat aufgehört. Das melden auch die Nachrichten. Der Carpe-Diem-Mann hat seinen Tag wohl genützt und ist jetzt zu Hause.

Das Salzburger Nachtstudio gibt es immer noch. Am Abend um neun. War das damals nicht später? Tatsächlich in der Nacht? Oder erschien mir diese Abendzeit als Teenager einfach nächtlicher als heute? Ich erinnere mich an eine Sendung über Ludwig Wittgenstein. Schon damals - obwohl aufgewühlt und angezogen - war ich mir am Ende unsicher, wie viel ich davon verstanden hatte. Heute weiß ich: praktisch nichts. Aber im Zuhören in der Nacht wurde mir durch die Stimmen so eindringlich klar, dass ich hier etwas verstehen wollte, musste. Zum Glück nahm ich die Sendung auf - auf Kassette. Irgendwann verwickelte sich das Tonband im alten Rekorder und riss.

Schmerzlich vermisse ich den »Schalldämpfer« von Axel Corti. Den kann ich nur noch von meinem IPhone hören. Eine freundlich-umständliche Kundendienst-Mitarbeiterin vom ORF hat mir einmal alle verfügbaren Sendungen zu einem Minutentarif auf CD gebrannt. Ein Liebesdienst.

Autofahrten sind wunderbar. Am besten über Land, lange und ins Wochenende hinein. Am Freitag. Besser kann man nicht »von Tag zu Tag« hören. Menschen sprechen miteinander. Hier sprechen wirklich Menschen. Hier werden mir keine auf die Werbeminuten zugeschnittenen O-Ton-Schnipsel vorgespielt. Und Versprecher gibt es auch. In allen Sendungen, dann und wann. Es ist nicht wahr, wenn ich sage, dass mir diese Versprecher am wichtigsten sind. Aber dass ich mich darüber freue, ist wahr. Nicht Schadenfreude. Echte Freude. Weil hier echte Menschen sprechen - und denken. Die kurzen Pausen, die kleinen Irritationen erzählen etwas. Winkt dem Moderator etwa eine Kollegin aufgeregt zu, legt ihm jemand eine Korrektur oder eine eben erst hereintickernde Meldung hin? War er abgelenkt durch einen weiterführenden Gedanken? Eine berührende Vorstellung in oft gedankenlosen Zeiten.

Moment! Nun stehen 15 Minuten Kostnotizen am Programm. Und 15 Minuten sind keineswegs zu viel für die kleinen Bissen, die wir oft viel zu achtlos im Mund haben: die Quitte, das Gurkerl, den Knoblauch, das Ketchup ... Jeden Freitag gibt es einen neuen ganz kleinen Bissen. Doch Achtung! Jetzt kommt Rudi. Rudi? Ja, Rudi, der Radiohund. Ich freu‘ mich und zugleich spüre ich den irritierten Blick meiner Frau neben mir: »Das ist doch für Kinder! Magst du das wirklich?« Ich räuspere mich verlegen, fühle mich aber von der Tatsache, dass wir auf der Welle eines Kultursenders sind, ausreichend unterstützt: »Ja«, sage ich, »ich mag den Rudi, sehr sogar.« Ruhe im Wagen. Man hört nur noch den rasenden Hund Rudi, Rosi und den Tonmeister. Waff!

In den Spielräumen muss ich etwas verweilen, so oft es geht. Für jemand wie mich, der Musik mag, aber nur eine maximal durchschnittliche musikalische Bildung hat, ist diese Sendung ein unentwegt anziehendes Rätsel. Die Damen und Herren, die hier sprechen, wissen alles über Arabesken, über Dur, Moll und Synkopen, über Jazz, Volksmusik aus aller Welt, Musik verschiedener Völker, über Barock oder Underground Rock. Und sie wissen alles mit einer Leichtigkeit zu benennen, als wären all diese Begriffe in die Klänge hineingeschrieben, und als würden sie 36 Stunden am Tag Musik hören. Manchmal fürchte ich mich vor Musiksendungen. Ich fürchte mich davor, dass mich die Stücke nerven und ich keinen Ton verstehe. Aber die »Spielräume« haben mir noch immer die Angst genommen. Sie machen vertraut mit der Welt der Musik und der Musik der Welt. Manchmal kann man hier auch die großartige Mirjam Jessa hören.

Es ist Sonntagabend. Wir fahren nach Hause. Gut möglich, dass sich der nächste Morgen wieder einsam und unbehaust anfühlt - und kalt. Aber ich schalte wieder das Radio ein.