Montag, 5. Mai 2014

Bücher retten Leben

John Williams schrieb in den 1960er Jahren einen der erstaunlichsten Romane des 20. Jahrhunderts: »Stoner«. Das Buch erschien 1965 in New York und wurde praktisch im selben Jahr wieder vergessen. Erst ein knappes halbes Jahrhundert später wurde es aus einem Regal vergessener Archive gezogen und erlebte einen Durchbruch. Ich selbst stieg kürzlich eines Abends in das Auto und hörte im Radio die letzten Minuten einer Sendung, in der über dieses Buch gesprochen wurde. Ich stieg aus, kaufte es und begann zu lesen.

Wir betreten mit den ersten Seiten Grundstück und Haus einer Farm im tiefsten Missouri, auf der Stoner als einziges Kind seiner Eltern in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. »Solange William Stoner sich erinnern konnte, hatte er Pflichten zu erledigen«, heißt es gleich irgendwo zu Beginn. Die Sprache wirkt einfach. Aber sie bewirkt nichts Einfaches. Wenn man genauer sein will - und das sollte man -, dann muss man sagen: Die Sprache ist von eindringlicher Klarheit. John Williams braucht nur wenige Zeilen, um das Leben auf der Farm fühlbar zu machen:
Es war ein einsamer Hof, auf dem er das einzige Kind blieb, doch die Not der täglichen Plackerei hielt den Haushalt zusammen. Abends saßen die drei beim Licht der Petroleumlampe und starrten in die gelbe Flamme; der einzige Laut, den man in der knappen Stunde zwischen Abendbrot und Bett hören konnte, war meist nur das Räkeln eines müden Körpers auf einem harten Stuhl oder das leise Knarren eines Pfostens, der sacht unter dem Alter des Mauerwerks nachgab.
William Stoner schließt 1910 die Highschool ab, und wir sehen ihn an einem Frühlingsabend mit seinem Vater am Tisch sitzen:
Eines Abends ..., nachdem die beiden Männer den ganzen Tag lang Mais gehackt hatten, richtete sein Vater, nachdem das Abendbrot abgeräumt worden war, in der Küche das Wort an ihn.
»Der Viehhändler kam letzte Woche.«
William blickte von dem ordentlich mit einem rot-weiß karierten Wachstuch bedeckten runden Küchentisch auf, sagte aber nichts.
»Angeblich gibt’s ein neues Institut an der Universität Columbia. Heißt Landwirtschaftscollege. Meinte, du solltest hin. Dauert vier Jahre«
»Vier Jahre‘, sagte William. ‚Kostet das was?«
Dann sehen wir, wie Stoner »auf dem im Licht der Lampe matt schimmernden Tischtuch« seine Hände spreizt, und hören ihn fragen:
»Glaubst du denn, du kommst hier allein zurecht?«
»Deine Ma und ich, wir schaffen das schon ...«
William sah zu seiner Mutter hinüber. »Ma?«, fragte er.
Mit tonloser Stimme antwortete sie: »Du tust, was dein Pa dir sagt.«
Und so beginnt Stoner zu studieren. Vor und nach den Collegestunden arbeitet er auf der Farm von Verwandten nahe Columbia. Nachts lernt er. Die natur- und agrarwissenschaftlichen Fächer fallen ihm leicht. »Nur der vorgeschriebene Einführungskurs in die englische Literatur«, wie wir erfahren, »verstörte und beunruhigte ihn auf eine Weise wie nichts zuvor.« Aber genau das wird ihm nun Bestimmung und Schicksal. Er wechselt in das Fach Literaturwissenschaft und beschließt nach einigem Zögern, nicht auf die Farm zurückzukehren. Seinen Eltern erzählt er erst spät davon. Und in dieser Szene erleben wir einen jener seltenen Momente, in denen seine Mutter für uns greifbar wird:
Seine Mutter hielt ihm das Gesicht zugewandt, sah ihn aber nicht an. Sie kniff die Augen zusammen, presste die geballten Fäuste an die Wangen, atmete schwer, und ihre Miene war wie vor Schmerz verzerrt. Erstaunt begriff Stoner, dass sie weinte, stumm und aus tiefstem Innern, mit all der Scham und Verlegenheit eines Menschen, der selten weint.
John Williams entwickelt das Geschehen in der nüchternen Sprache eines Berichts. Doch dieser schnörkellose Bericht erreicht eine sprachliche Kraft und Eindringlichkeit, die uns vom ersten Augenblick an in den Text hineinzieht wie in ein tiefes Wasser. Nur manchmal tauchen wir auf, in Panik, weil uns die Luft ausgeht und die Lungen schmerzen.

Wir folgen dem Bericht eines Lebens, das wir nicht ertragen könnten oder wollten. Auf rätselhafte Weise fühlen wir uns ihm aber nahe. Macht uns das etwa mehr Angst als das unglückliche Leben von Stoner selbst? Nach dem Studium verliebt er sich und heiratet. An dieser Stelle würden wir am liebsten aufspringen, die Arme in die Höhe reißen und ihn warnen. Aber wir bleiben sitzen und lesen weiter.

Von Edith, seiner Frau, erfahren wir kaum etwas. Jedenfalls beinahe nichts über ihre Beweggründe. Diese Figur ist ebenso schrill, wie sie im Dunkeln bleibt. Jedenfalls ist Ediths Lieblosigkeit ihm gegenüber dermaßen vehement, dass wir das Gefühl haben, unsere Lippen langsam und mit leichtem Druck über die Schneide einer Rasierklinge zu ziehen, während wir den Bericht über ihr Zusammenleben lesen. Die Szenen, in denen sie ihn offen terrorisiert, wirken da beinahe erholsam. Denn in ihnen zeigt sich wenigstens irgendeine Nähe, irgendein Gefühl. Und doch findet Stoner ein schmerzliches Glück. Nur mit einer anderen Frau? Oder auch mit Edith, am Ende?

Seine Laufbahn an der Universität ist alles andere als glanzvoll. Er wird Assistenzprofessor, und seine Karriere stagniert praktisch vom ersten Tag an bis zu seinem Tod. Und doch trägt diese Universität in zärtlicher und leidenschaftlicher Weise sein ganzes Leben. Er weiß, dass es für ihn kein Leben außerhalb der Universität geben kann. Er weiß, dass er nur dieses Leben leben kann und kein anderes. Seine Karriere ist unspektakulär. Aber vielleicht ist er ein großer Lehrer. Würden wir William Stoner erkennen, wenn wir ihn an unserem eigenen Arbeitsplatz in einem Büro am anderen Ende des Ganges treffen?

Und dann ist da noch Grace, vor allem Grace – seine Tochter. Ihr fühlt er sich vom ersten Tag ihrer Geburt an so nahe, so verbunden und seelenverwandt, dass sie ihm bis zum Schluss ein filigraner Haltegriff im Leben bleibt. Edith zieht sie früh fort von ihm, richtet sie ab und entfremdet sie. Und der Schmerz darüber zieht sich durch Stoners Leben wie der ununterbrochene hauchdünne Schnitt jener Rasierklinge, die wir schon kennen. Als Erwachsene sieht er sie kaum noch. Er weiß, dass sie trinkt, und er sieht es ihr an. Kurz vor Stoners Tod sehen sie einander. Und wir hören seine Tochter sagen:
»Armer Daddy«, sagte Grace, und das brachte ihn in die Gegenwart zurück. »Armer Daddy, das Leben war für dich nicht einfach, oder?«
Einen Moment dachte er nach und erwiderte dann: »Nein, aber ich glaube, das hätte ich auch nicht gewollt.«
Bevor ganz am Ende ein Buch »in die Stille des Zimmers« fallen wird, denke ich mir: Könnte man nicht auch über Edith oder über Grace schreiben, mit der gleichen Eindringlichkeit und mit ähnlich subtilem Blick für das Glück und Unglück ihres Lebens? Könnte das Buch auch »Edith« heißen - oder »Grace«? Wurde es möglicherweise sogar geschrieben? Vielleicht sollten wir nach ihm suchen. In jenen vergessenen Archiven der Literatur, in denen auch »Stoner« jahrzehntelang verschollen war.

John Williams, Stoner, dtv 2013 (aus dem Englischen von Bernhard Robben)

Donnerstag, 27. März 2014

Unsinn ist schlichtweg unsinnig.

Herr Mölzer hat also wieder einmal ein Tor geschossen. Eine starke Leistung? Naja. Das Tor war leer. Überhaupt waren die Mannschaften in der Kabine und das Publikum hauptsächlich am Klo. Es war eben gerade Pause.

Aber das ist jetzt seine Chance. Der Mölzer Andi nimmt sich also eine alte Lederwuchtl, legt sie zwei Meter vor die Torlinie, läuft an, haut drauf und … trifft. Immerhin. Die EU, so der Mölzer Andi, sei so überreguliert und deshalb eine Diktatur, die die Menschen unfrei macht. Dagegen sei ja "das Dritte Reich wahrscheinlich formlos und liberal" gewesen, so der Mölzer Andi, der dann noch das Wort „Negerkonglomerat“ heraufrülpst, weil er die Kohlensäure vom Bier nicht verträgt.

Jetzt kommen die Spieler wieder aufs Feld und auch das Publikum ist vom Klo zurück. Die gewohnte Rhetorik-Choreografie kann beginnen: vereinzelte Buhrufe, Betroffenheit, Empörung. Der Schiri soll ihn ausschließen, so die fast einhellige Meinung. Insgesamt mündet alles in das lauwarme Bacherl des schon ein wenig gähnend vorgebrachten und beinahe gesamtösterreichischen Grundkonsenses, der sich gerne wie folgt ausdrückt. „Aber das ist ja eine Verharmlosung der Nazi-Verbrechen.“ Na bum! Das Aufregungstheater ist kurz und schlecht besucht.

Eine Verharmlosung? Ich finde, der Herr Mölzer hat gar nichts verharmlost. Er hat schlichtweg Unsinn geredet. Warum sagt man nicht einfach: Ja richtig, eine entwickelte Demokratie, die verschiedene Interessen und Gruppierungen in Meinungs- und Willensbildungsprozesse sowie Entscheidungen miteinbezieht, hat nun einmal mehr und komplexere Regeln als eine Diktatur, die nach einer einfachen Mechanik funktioniert: Du tust das, was ich sage, sonst ist die Rübe ab. Dass das so ist, lernen bei uns schon die Kinder in der Volksschule. Haben Sie da etwa gefehlt, Herr Mölzer?

Mir ist bewusst, dass gegen primitive, rechts-populistische Geisteshaltungen kein rasch wirksames Kraut gewachsen ist. Aber vielleicht gelingt es durch eine Reaktion dieser Art eher, den Herrn Mölzer als das dastehen zu lassen, was er ist: ein Blödmann in einem bildungsfernen Parteiumfeld.

Donnerstag, 30. Januar 2014

Pablo Neruda - Dichtung und Politik

 
Drei Wochen in Chile haben mich Pablo Neruda näher gebracht. Eigentlich das erste Mal. Bisher hatte ich da und dort einen Vers gelesen und manches über ihn: Neruda der Kommunist, Neruda der Nobelpreisträger. Mehr Lexikonwissen als echter Eindruck. In Chile las ich ihn nun zum ersten Mal. Las ihn wirklich, langsam. Dass man beides - Dichter und Politiker - in so reiner Form sein kann, erstaunte mich. Ich hielt es für unglaubwürdig. Denn auf den ersten Blick widerspricht es einander. Auch auf den zweiten. Aber ich las weiter und gewann Vertrauen. Wir sollten ihn öfter lesen. Hören wir ihm jetzt ein paar Augenblicke zu, entlang seiner Memoiren »Ich bekenne, ich habe gelebt.«
 
»Der Dichter darf sich nicht vor dem Volk fürchten.«
 
Und viele Stunden später heißt es:
 
»Ich will in einer Welt ohne Exkommunizierte leben. Ich werde niemanden exkommunizieren. Ich werde morgen auch nicht zu dem Priester sagen: ‚Sie können niemanden taufen, weil sie Antikommunist sind.‘ Ich würde auch nicht zu dem Nächsten sagen: ‚Ich werde Ihr Gedicht, Ihre Schöpfung nicht drucken, weil Sie Antikommunist sind.‘ Ich will in einer Welt leben, in der die Menschen nur menschlich sind, ohne jeden anderen Titel als diesen, ohne sich eine Regel in den Kopf zu setzen, ein Stichwort, ein Etikett. Ich will, dass man alle Kirchen betreten darf, alle Druckereien. Ich will, dass man niemanden mehr vor dem Bürgermeisteramt auflauert, um ihn festzunehmen oder auszuweisen. Ich will nicht, dass einer per Gondel fliehen muss, dass einer auf dem Motorrad verfolgt wird. Ich will, dass die große Mehrheit, die einzige Mehrheit, dass alle reden können, lesen, hören, gedeihen. Ich habe den Kampf nie anders verstanden, als dass er ende. Ich habe die Strenge nie anders verstanden, als dass es keine Strenge mehr gebe. Ich habe einen Weg gewählt, weil ich glaube, dass dieser Weg uns alle zu dauernder Freundlichkeit führt. Ich kämpfe für diese allgegenwärtige, ausgreifende, unerschöpfliche Güte.«
 
»Es ist wahr: die Welt wäscht sich nicht rein, von Kriegen und von Blut, sie legt den Hass nicht ab, es ist wahr. Es ist aber gleichfalls wahr, dass allmählich eines offenkundig wird: Die Gewalttäter erblicken sich im Spiegel der Welt, und ihr Gesicht ist nicht einmal für sie selber schön.
Ich glaube nach wie vor an die Möglichkeit der Liebe. Ich habe die Gewissheit, dass die Verständigung zwischen den Menschen möglich ist über Schmerzen hinweg, Blut und zerbrochenen Scheiben.«